Adel Tawil ist eine der bekanntesten Stimme des Landes. Seine Hits „Lieder“, „Ist da jemand“ und „Zuhause“ muss man einfach kennen, wenn man sich mit deutschsprachiger Popmusik befasst. Auch seine Zeit als Teil des Duos Ich + Ich an der Seite der großen Songwriterin Annette Humpe war prägend für die heimische Musiklandschaft. Ende 2019 wusste Tawil dennoch, dass er nach den künstlerisch wie kommerziell erfolgreichen Jahren eine Pause brauchte. Die Auszeit war fest eingeplant – aber dann kam die ungewollte Auszeit für die komplette Musikwelt. „Ich kenne viele, die in dieser Zeit hingeschmissen haben”, erinnert sich Adel Tawil heute. „Weil sie keine Kraft mehr hatten. Oder weil sie fanden, dass das alles ohnehin keinen Sinn hat.“ Für Tawil machte die Musik noch Sinn. Mehr denn je. Denn der Sänger, Songwriter und Produzent spürte, dass die Lähmung des Lockdowns viele im Dauerstress weggeschobene Zweifel, Sorgen, Ängste löste, die ihm keine Ruhe ließen. Sonst half ihm in genau diesen Zeiten das Spiel mit dem Publikum. Das singen auf großen Bühnen. Das Teilen seiner vertonten Emotionen. „Nicht auftreten zu können, hat mir sehr zugesetzt“, gibt er heute zu. Aber Adel Tawil wollte sich dennoch nicht den dunklen Gedanken hingeben. Die Musik half ihm dabei, diese aufzuarbeiten.

Wie intensiv das werden kann, beweist zum Beispiel der Song „Autobahn“, bei dem Adel Tawil Texte singt, die man so von ihm vielleicht nicht erwartet hätte: „An den dunkelsten Orten, in den dunkelsten Clubs / In meinem Glas schwamm das Vergessen, hab' es runtergeschluckt.” Die Bilder, die Adel auf „Spiegelbild“ malt, sind düsterer als das, was man von ihm kennt. Er selbst sagt: „Auf diesem Album gibt es definitiv Momente, die ich früher gekillt hätte, weil sie mir zu persönlich, auch zu dark gewesen wären. Aber ich musste das machen. Alles andere wäre nicht ehrlich gewesen.“ Auch „Labyrinth“, das er mit Bozza verträgt, zeugt von dieser Darkness, selbst wenn die Musik dazu immer wieder zum Licht strebt. Da klingen plötzlich EDM und Afrobeats an, der Titelsong liebäugelt gar mit der New Wave-Ästhetik der achtziger Jahre.

Ein traurig-schönes Highlight ist der letzte Track von „Spiegelbild“: „Nirvana” heißt er und handelt vordergründig von dem Drang auszubrechen, mit unbekanntem Ziel „auf endlosen Straßen, weiter Richtung Nirvana / Kofferraum voller Fragen, alles so laut, ich muss dringend hier raus / Regen schlägt an mein Fenster, doch in mir tobt ein Orkan / Ganz egal, wie das endet: Alles auf neu und ich werd’s nicht bereuen.“ Das Stück ist im Kern jedoch – wie eigentlich das gesamte Album – eine Verneigung vor Adel Tawils langjährigen Produzenten Andreas Herbig. Herbig ist Anfang 2022 im Alter von 55 Jahren nach langer Krankheit in einem Hamburger Hospiz gestorben. Viel zu früh, viel zu traurig. „Nirvana” ist der letzte Song, an dem die beiden gemeinsam gearbeitet haben. Nun ist er der letzte Song auf einem Album, das auch vom Weitermachen handelt – und das sicher dafür gesorgt hat, dass Adel Tawil nach dunklen Jahren wieder aufrecht seinem Spiegelbild in die Augen schauen kann.